Wie ich die Corona Situation als Sozialpädagogin erlebt habe
„Willkommen in der neuen Wirklichkeit“, schrieb mir mein ehemaliger Chef auf WhatsApp. Mein Urlaub neigte sich dem Ende zu und somit auch die “alte Wirklichkeit“ von der es mir sichtlich schwerfiel, mich zu verabschieden um die „neue Wirklichkeit“ willkommen zu heißen.
Denn nach seiner Einleitung folgten sogleich Anweisungen und er wies auch explizit daraufhin hin, dass das Arbeitsanweisungen sind, wie ich mich zukünftig zu verhalten habe. Kein Lachen mehr, kein rufen, kein lautes sprechen mehr ohne Maske. Zudem sollte ich acht geben auf die Aerosole die sich aufgrund, weil ich atme in der Jugendeinrichtung verteilen können. Es folgte der Hinweis den Mindestabstand einzuhalten, regelmäßig den Arbeitsplatz zu desinfizieren und Maske zu tragen. Ansonsten sollte ich sensibel mit den Jugendlichen umgehen.
Der erste Gang nach meinem Urlaub zur Arbeitsstelle, einem Jugendzentrum, lag mir schwer im Gemüt. Überall erwarteten mich Abstandsschilder, jedes zweite Pissoir war angeklebt, es fanden sich Wegweiser auf dem Boden, damit man wusste in welche Richtung man sich noch bewegen durfte. Zusätzlich wurden Spiegel an der Treppe installiert, damit man sehen konnte, ob einem jemanden auf der fünf Meter breiten Treppe entgegen kommt. Denn dann sollte man stehen bleiben und warten bis dieser Mensch an einem vorbei gegangen ist mit der Befürchtung nicht den Mindestabstand einhalten zu können. Mein ehemaliger Chef fand diese Idee genial. Es ging dann noch genialer weiter. Am Tresen wurde eine durchsichtige Plexiglaswand aufgehangen. Und es wurden sogenannte Slots eingerichtet. Die Kinder und Jugendlichen durften nur noch in Kleingruppen zu uns kommen, sondern mussten sich vorher anmelden und nach zwei Stunden ablösen.
Mir war schlecht. Regelmäßig bin ich zum Weinen nach der Arbeit mit dem Fahrrad an den Rhein gefahren. Die neue Wirklichkeit wollte sich nicht mit mir anfreunden. Oder war es umgekehrt?
Für mich wurde die Situation immer grotesker, für die Anderen immer normaler. Neue Regeln, neue Methoden wurden erprobt und eingeführt, um andere und sich selbst zu schützen. So wurde es zu mindestens vermarktet.
Bald liefen mein ehemaliger Chef und meine junge Kollegin mit einem Zollstock durch die Räumlichkeiten, um einerseits aufzuzeigen, wie der Mindestabstand von 1,5 Meter auszusehen hat und um andererseits den Abstand von zwei Jugendlichen abzumessen. Der Höhepunkt war Fotos zu gestalten, auf denen die Beiden nebeneinander auf der Couch saßen und der Zollstock zwischen ihnen lag. Auch sie luden mich ein solche Fotos von mir zu machen, ich lehnte dankend ab. Meine junge Kollegin hatte eines Tages auch einen weiteren Einfall gehabt. Masken selber zu nähen mit dem Logo der Einrichtung darauf. Es wurde geplant, entworfen und genäht. Ich schaute zu.

Fröhlich sahen sie aus, selbstverständlich, ohne zu hinterfragen – und angekommen in der neuen Wirklichkeit. Ich nicht.
Dann hatte ich eine Idee. Ich traf mich zu Einzelgesprächen mit einigen Jugendlichen weit weg von der Einrichtung. Meinem ehemaligen Chef sagte ich, ich gehe mit ihnen spazieren. Ich achtete darauf, nicht den Mindestabstand dabei einzuhalten und wenn sie eine Umarmung brauchten, umarmte ich sie. Ich hatte keine Angst vor einem Virus, ich hatte Angst vor der Entmenschlichung und ich wollte dem Menschlichkeit entgegen setzen. Ohne Distanz, ohne Angst. Weder äußerlich, noch innerlich. Sie spürten es, sie öffneten sich, sie teilten ihren Kummer mit mir. Wenn sie mich sahen, verstecken sie sich nicht vor mir, weil sie sich unerlaubt zu mehreren trafen. Wenn sie meine junge Kollegin sahen, liegen sie aber davon.
Lange Zeit später schrieb mir eine ehemalige Jugendliche auf Instagram. „Die wurden alle so komisch. Du nicht!“ Wir tauschten uns aus und ich bemerkte, dass nie eine Aufarbeitung stattgefunden hatte. Sie, die früher täglich im Jugendzentrum war, ging irgendwann einfach nicht mehr hin.
Die Kinder, die ich von der Grundschule abholte, durften, wenn sie mit mir gingen die Maske an der frischen Luft absetzen. Ansonsten war es ihnen untersagt. Ich besprach das eines Tages mit meinem ehemaligen Chef und fragte. „Warum müssen die Kinder draußen eine Maske tragen, aber in Räumlichkeiten, wenn sie nebeneinander sitzen nicht?“ Er entgegnete mir, dass die Kinder eine Vorbildfunktion innehaben. Zumal, wenn man sie draußen sieht.
Bisher hatte ich mich lediglich als Vorbild für die Kinder gesehen und nicht umgekehrt. Willkommen in der neuen Wirklichkeit.
Mein ehemaliger Chef und meine junge Kollegin waren intensiv damit beschäftigt die neue Wirklichkeit noch wirklicher zu gestalten. Ich versuchte etwas anderes. Niemals sah man mich mit dem Zollstock in der Hand, und schon gar nicht schrie ich die Kinder und Jugendliche an Abstand zu halten. So öffneten sich auch die Kinder mir gegenüber. Erzählten mir von ihrem Schulalltag, dass wenn sie nicht gehorchten, sich in die Ecke stellen mussten und sie Strohhalme erhalten haben, dass sie beim Trinken nicht die Maske ansetzen mussten. Das Nutella und Marmelade besonders gut schmecken, wenn man diese auf die Rückseite der Maske auftrug und sie ableckte.
Mir schmeckte allerdings die gesamte neue Wirklichkeit nicht. Weder mit Nutella, noch mit Marmelade.
Besonders als in einer gemeinsamen WhatsApp-Gruppe zwischen meinen Kollegen und Honorarkräften aus der Jugendeinrichtung und den Kollegen und Vorgesetzten der beiden Grundschulen ein Ganzkörperfoto und ein zusätzliches Foto, wo man mein Gesicht noch deutlicher erkennen konnte, gepostet wurde. Ich wurde von unserer langjährigen Honorarkraft, Erzieher, Vater von drei Kindern, gefragt, ob ich das sei? Mit dem Vermerk, dass man mich auf einer der Queer Kundgebungen gesehen hatte. Was sollte ich dazu sagen? Nein, das war der Weihnachtsmann? Ich antwortete. „Ja, das bin ich. Und jetzt?“ Die Honorarkraft antwortete mir, dass sie das nur wissen wollte. Was mit dem Wissen geschah, bemerkte ich kurze Zeit später, als ich von diesem vor den Jugendlichen angeschrien wurde ich mit meiner Einstellung die Einrichtung verlassen und besser nachhause gehen sollte. Ein Schockerlebnis für die Jugendlichen die diese Szene beobachtet haben und sich später bei mir entschuldigten für seine „erwachsene“ Verhaltensweise.
Ob Kollegialität, ob Schutz vor der Privatsphäre, ob Datenschutz nichts mehr hatte eine Gültigkeit in der neuen Wirklichkeit. Somit wurde für mich die „neue Wirklichkeit“ immer ungemütlicher und in meinen Augen auch unmenschlicher.
Zum Schluss, als ich bereits meine Stelle gekündigt hatte, durfte ich die Einrichtung nicht mehr ohne Negativ Test betreten. Mein ehemaliger Chef war seiner Zeit voraus gewesen. Denn diese Regel kam erst einige Monate später.
Ich hatte allerdings einen Schnupfen bekommen und meine junge Kollegin hatte mich womöglich überführt mit einer gefährlichen Virusinfektion und zeigte meinem Vorgesetzten meine WhatsApp Nachricht, in der ich mich belustigt hatte über meinen Schnupfen. So musste er sich dann doch einmischen, nach seinen Worten. Es folgte ein langes Hin und Her, wo ich mich überall testen lassen könnte und ich entgegnete, ich kann mich nochmals bei meinem HNO- Arzt untersuchen lassen. Aber ich bin bereits gesund. Er wollte aber weiterhin einen Negativ- Test von mir haben, denn er war sicher, dass ich Corona hatte.
Ich verschwieg, dass mein HNO-Arzt mir einen Befund mitgegeben hatte, worauf stand, dass ich vollständig genesen bin, kein Corona hatte und auch nicht ansteckend bin. Zudem hatte ich eine Kreuzimmunität gegen das Virus entwickelt. Mein HNO- Arzt erklärte mir, dass das nicht erwähnt in dem Kasperle Theater, weil man damit kein Geld machen kann.
Ich konnte das Kasperle Theater nicht länger mehr ertragen. Ich bemerkte, dass ich mehr und mehr depressiv wurde und mich morgens nicht mehr auf den Tag freute. Und ich schwieg, denn ich konnte niemanden aus seiner „neuen Wirklichkeit“ rausholen. Das war eine Entscheidung und jeder musste sie selber tragen.
Ja, Willkommen in der „neuen Wirklichkeit“, in der ich zum Glück nie angekommen bin.
Ich bin nie wieder in die Einrichtung zurückgekehrt, auch nicht um meine persönlichen und zum Teil wertvollen Dinge abzuholen. Mein ehemaliger Chef fragte nur nach dem Schlüssel, den ich bereits in der Geschäftsstelle abgegeben hatte.
Zu meinem Bedauern wurde das nie aufgearbeitet. Denn dann müssten einige doch ihre damaligen Handlungen überdenken, sich selber und ihre Handlungen infrage stellen und sich vielleicht auch entschuldigen. Vor allem bei den Kindern und Jugendlichen.
Jahre später schrieb ich ihnen aus Mexiko. Ich erzählte ihnen, wie ich diese Zeit erlebt habe, was das mit mir und den Kindern und Jugendlichen gemacht hat.
Es kam nie eine Antwort. Von niemanden.
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